Gefangen im Netz der Liebe

Nein, er denkt an nichts Besonderes in den Minuten, die die letzten seines Lebens sein sollen. „Wenn Welten in dir zusammenbrechen, geht dir nicht viel durch den Kopf“, sagt Markus leise, und er denkt an den 8. April zurück, als er mit Tempo 180 die Autobahn entlangrauscht, auf jenen Brückenpfeiler zu, an dem Schluss sein soll. Es ist aus, hat sie gesagt, vergiss mich, hat sie gesagt. Das erträgt er nicht. Abschüssiges Gelände, schnurgerade Strecke, er muss nur noch durch die Leitplanke, und er wäre seinen Liebesschmerz los.

Er kennt sie nur von Fotos

Dabei hat er sie nie geküsst. Nie berührt, hat nie mit ihr geschlafen. Er hat sie nie gesehen, nur auf Fotos, er kennt nicht ihren Duft. Wie um Himmels willen kann er sich ihretwegen umbringen wollen?

Sie haben gechattet, monatelang und fast jeden Tag. Dass daraus eine unglückliche Liebesgeschichte werden würde, war damals nicht abzusehen.

Niemand weiß, wie viele Menschen ihr Herz in einem Chatraum verloren haben. Doch wer die Räume abgrast, der wird auf viele arme Teufel treffen, die nach jemandem suchen, den sie einst im Chat trafen und aus den Augen verloren. Kaum etwas im Netz ist leichter, als durch seine Maschen zu rutschen. Man geht einfach weiter und chattet auf einer anderen Seite.

Das Medium Chat weitet sich so lange aus, wie Speicherplatz vorhanden ist. Fast neun Millionen Deutsche suchen im Netz Kontakt. Zwei Drittel der Kontakte kommen laut einer Umfrage in Chats zustande. Selbst auf Privatseiten finden sich inzwischen Chaträume. In manchen mögen ernsthafte Themen besprochen werden, in den meisten Räumen wird hingegen mit vielen Worten nichts gesagt.

Während der Arbeit sechs Stunden gechattet

Nicht so bei Markus. Sie sprach ihn an, in einem Raum eines Chats im vergangenen August, und von Beginn an verstanden sie sich blendend. Sie tippten immer weiter, flirteten ein bisschen und verabredeten sich für den nächsten Tag. Er werde sie erwarten, in seinem Stammraum. Sie kam. Markus war selig. Sie kamen sich näher. Plauderten über dies und das. Und zogen sich schnell aus dem Chat-Raum, in dem alle alles mitlesen können, in ein Séparée zurück. „Wir haben während der Arbeit oft sechs Stunden gechattet, und abends von zu Hause aus ging es weiter“, sagt er und seufzt.

Solche Chat-Liebespaare gibt es zu Tausenden. Und so unterschiedlich Chatter auch sind – eines haben sie gemein: Irgendwann reichen ihnen die Textzeilen auf dem Bildschirm nicht mehr. Die Sinne wollen befriedigt sein. Sie haben sich verliebt in die Sprache eines Menschen, in seinen Humor. Ob der Mensch groß, klein, dick oder dünn ist, ist egal, im Chat treffen sich Leute, die in der Kneipe nie ein Wort wechseln würden. Doch trotzdem will jeder irgendwann wissen: Wie sieht der andere aus? Entspricht er meinen Vorstellungen? Oder mache ich mir was vor? Im Chat sind Männer oft Frauen und Frauen Männer. Fast jeder, der sich erstmals in einen Chat tastet, wird einer falschen Natascha auf den Leim gehen. Im Chat können alle alles sein.

Witzig und charmant

Seine Befürchtungen wurden wahr, als sie ihm ein Digitalfoto schickte: Sie war auch noch bildschön. Das Bikinimädchen auf dem Foto mit den langen, blonden Haaren legt den Kopf zur Seite und schaut fragend, als ob sie sagen wollte: Und wie siehst du aus? er dachte sofort: Nicht gut genug für sie. „Ich finde mich äußerlich nicht so toll“, sagt er. „Ich habe Gewichtsprobleme, und das hemmt mich.“ der Chatter, sein Nick dagegen ist nicht dick. Er ist nur witzig und charmant. Er ist all das, was Markus nicht sein kann, wenn eine Frau ihn ansieht. Trotzdem schickte er ihr Bilder und war der glücklichste Mensch unter der Sonne, als sie sich wieder bei ihm meldete.

Das mag der Zeitpunkt gewesen sein, als Markus zu ahnen glaubte, er könnte seinen Nick ablegen und einfach nur Markus sein. Dass er endlich jemanden gefunden hatte, der sich nicht um sein Aussehen schert. Vielleicht hat ihn das übermütig gemacht, vielleicht hat er sich überschätzt. Aber jetzt wollte er sie treffen. In echt, real. Chatter sehnen diesen Moment herbei und fürchten ihn zugleich. Es ist schwer, den Zauber des Chats hinüber zu retten in den Augenblick, in dem sich Blicke treffen und eine schiefe Nase mächtiger sein kann als alles Chatten auf einer Wellenlänge.

Markus wollte es wagen. Überallhin würde er fahren, nur um ihr gegenüberzustehen, sie – er wagt das kaum zu hoffen – in den Arm zu nehmen. Er wusste, sie wohnte in Zürich, nur 500 Kilometer von ihm entfernt. Er würde hinfahren. Ihr würde er nichts davon sagen. Sie kannten sich erst vier Wochen, als er auf die Idee kam, die Distanz des Chats aufzugeben.

Vier Wochen sind im Chat Jahre

Vier Wochen. Im Chat sind das Jahre. Menschen durchlaufen dort alle Phasen des Kennenlernens im Zeitraffer. Nach fünf Minuten erzählen sie von ihren Hobbys, nach einer Stunde halten sie sich für gute Freunde, und nach einer Woche glauben sie alles voneinander zu kennen – bis auf das Wichtigste: die Aura des anderen. In der Fantasie wird der andere immer perfekter und die Chance immer kleiner, dass er diesem Bild in der Realität entsprechen kann.

Mag sein, dass Markus deswegen den Augenblick, in dem aus online offline wird, schnell herbeiführen wollte. Deshalb der Überraschungsbesuch. Deshalb der Überfall aus leidenschaftlichem Überschwang.

Irgendwann sagte sie: okay

An einem Freitagabend fuhr er los. Mein Gott, würde er sie überraschen! Und sie, sie würde sich freuen! Natürlich musste sie das. Markus fühlte sich leidenschaftlich, endlich passierten in seinem Leben Dinge, die es sonst nur in Filmen gibt. In Zürich ging er sofort in ein Internetcafé. Bald würde sie online gehen, und er würde ihr eröffnen, dass er ganz in ihrer Nähe sei. Er konnte es kaum erwarten. Tatsächlich, nach wenigen Minuten kam sie. Und es ging schnell: In Zürich sei er, ja wirklich! Er vergehe vor Sehnsucht, er wolle, nein: Er müsse sie sehen. Irgendwann sagte sie: okay. Und fühlte sich wohl überrumpelt. Eigentlich brauchte sie Zeit und Distanz. Der Chat war für sie das perfekte Medium: Liebe ohne Nähe. Jetzt kam da einer, der sie ans Licht zerren und ihrer Sicherheit berauben wollte.

Sie bestellte ihn zum Bahnhof. Er solle nicht länger als eine Viertelstunde auf sie warten, sagte sie ihm noch. Das war wohl ein Wink, dass ihr alles zu schnell ging. Er hat ihn nicht verstanden.

Er wartete und wartete, sie kam nicht. Was er nicht wusste: Sie war da, beobachtete ihn. Traute sich nicht, auf ihn zuzugehen. Sie konnte nicht, sie wollte es auch nicht. Das erklärte sie ihm später.

Kann sein, dass vor allem Menschen chatten, die Anonymität zu schätzen wissen. Weil sie nicht die Hübschesten sind. Weil sie nicht die besten Redner sind oder keine idealen Körpermaße haben. Kann auch sein, dass sie ein falsches Foto geschickt hatte und sich nicht traute, das zuzugeben. Kann auch sein, dass sie ein 70-jähriger Opa ist. Chat ist das Medium mit den meisten Kann’s.

Warum war sie nicht gekommen?

Wütend und enttäuscht fuhr Markus wieder nach Hause. Warum nur war sie nicht gekommen? Zu Hause angekommen, fand er E-Mails, in denen sie sich entschuldigte, seitenlang. Er solle sich nicht abwenden, sie liebe ihn, brauche nur Zeit. Er war schnell versöhnt. Ihre Liebe pendelte sich im Chat wieder ein. Sie trafen sich täglich, schrieben Mails, telefonierten. Und wurden trotzdem immer unglücklicher. Irgendwann reicht die Illusion doch nicht mehr, irgendwann muss der Übergang in die Realität geschafft werden.

Markus schien das zu ahnen, fürchtete, er werde sie nie sehen. Im November dann der zweite Anlauf. Er sagte nichts, wie beim ersten Mal. Fuhr nach Zürich. Wollte sie sehen. Es wurde nichts. Markus spürte, dass die Sache kippte. Sie kippte, als ihre Mail kam. Sie werde ein Jahr nach Kanada gehen, als Au-pair-Mädchen. Am 8. Dezember. Das war die Hölle für ihn.

Erst Mitte Januar traf Markus sie im Chat wieder. Jeden Tag war er fast rund um die Uhr online, hoffte, sie würde in den Chatraum kommen. Und noch einmal schien doch alles gut zu werden.

„Sie schrieb, sie werde nach Europa kommen und wolle mich doch endlich kennen lernen“, sagt er leise. Am 8. April werde sie da sein, sie würden sich sehen. Sie würden nach Zürich fahren, bevor sie wieder nach Kanada fliegen werde.

Nichts von all dem trat ein. Einen Monat vor dem Treffen ließ sie ihn wissen: Sie komme nicht, sie habe einen Freund, es sei aus. Zack. Das muss der Zeitpunkt gewesen sein, an dem endgültig etwas zerbrochen ist, sein Leben einen Sprung bekam. Er versuchte sie umzustimmen, sie blockte alles ab. Und er fand eine Ausrede vor sich selbst, dass sie schon kommen werde am 8. April.

Das hielt ihn über Wasser. Sie hatte es doch versprochen. Sie würde kommen. Sie kam nicht. Der 8. April verlief wie alle schlimmen Tage vorher. Er begriff, dass sie ihm entglitten war.

Auf dem Weg zum Brückenpfeiler

Und so findet er sich auf einmal wieder, in seinem Audi, auf dem Weg zum Brückenpfeiler. Es ist, als beobachte er sich selbst. Er muss durch die verdammte Leitplanke kommen! Er sieht die Brücke. Sie kommt näher. Jetzt. Er reißt das Steuer nach rechts. Dann geht alles von selbst. Der Knall, das Geräusch splitternden Glases, alles dreht sich. Dann bleibt das Auto stehen. Schrott. Er hat keinen Kratzer.

Ein gespenstisches Leben führt er seitdem. Verlässt die Wohnung nur, um zur Arbeit zu gehen. Die Wochenenden sind die Hölle. Zynisch und einsam lungert er im Chat herum, der Rechner ist 24 Stunden online, er kann ihn nicht ausstellen; vielleicht kommt sie ja noch, redet mit ihm, sagt, dass sie ihn brauche. Oder war sie vielleicht schon da? Und hielt sich, maskiert mit einem anderen Pseudonym, zeitgleich mit ihm im Chatraum auf, ohne dass er es merkte? Dauernd stellt er sich diese Fragen. Sie lassen ihm keine Ruhe.

Irgendetwas in ihm lässt ihn immer noch hoffen, dass sie doch noch zusammenkommen werden, sie eine analoge Zukunft haben. Irgendwann müsse sie ja wieder zurückkommen aus Kanada, sagt er. Durchhalteparolen. Wüsste er, wo sie sich aufhält, er säße sofort im Flugzeug. „Eine Frau wie sie wird mir nie wieder begegnen, davon bin ich hundertprozentig überzeugt. Sie ist ein Millionentreffer.“ Er glaubt das wirklich. Er bräuchte nur fünf Minuten. Verdammte fünf Minuten. Die würden ihm reichen. Wofür? „Wir sehen uns fünf Minuten, und alles wird gut.“

 

 

 

 

 

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